Noch nie konnten wir so viel entscheiden wie heute. Die vielen Möglichkeiten machen uns jedoch das Leben schwer. Wie können wir trotzdem die richtige Wahl treffen?
Im 16. Jahrhundert schuf René Descartes diesen berühmten Spruch. Bis weit hinein in die Neuzeit war das in Stein gemeisselt und allen klar: Intuition ist ein schlechter Ratgeber. Das einzig Wahre sind wohlüberlegte rationale Entscheidungen.
Elliot war Patient des portugiesischen Neurologen Antonio Damasio (Die genaue Geschichte lässt sich nachlesen im Buch: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. List, München 1994). Einige Monate zuvor war Elliot ein Tumor aus dem Gehirn operiert worden, gleich hinter der Stirn. Der Tumor war klein, doch die Folgen waren tragisch: Aus dem tüchtigen Mann war ein chronischer Zögerer und Zauderer geworden.
Er hing stundenlang am Autoradio, weil er sich nicht für einen Sender entscheiden konnte. Er konnte kein Wort schreiben, wenn ein schwarzer und ein blauer Stift zur Wahl standen. Elliot war alltagsuntauglich geworden.
Denken konnte er noch bestens, sein Intelligenzquotient war unverändert hoch. Nur sich entscheiden, das konnte er nicht mehr.
Damasio brachte eine neue Wahrheit ans Licht: Ohne Gefühl ist der Verstand hilflos. «In den vielen Stunden des Gesprächs mit ihm sah ich nie den Hauch einer Emotion», erinnerte sich Damasio, «keine Traurigkeit, keine Ungeduld, keine Frustration.» Elliot konnte sich nicht mehr entscheiden, weil sich alles gleich anfühlte.
Damasio suchte nach ähnlichen Fällen und fand Menschen, die all ihr Fühlen verloren hatten – und damit ihre Fähigkeit zu entscheiden.
Nein, denn auf den Bauch allein ist ebenfalls kein Verlass. Erstaunlich leicht lassen wir uns von unseren unbewussten Vorurteilen, Ängsten und Assoziationen beeinflussen. Die Anekdoten über Piloten, Feuerwehrleute oder Ärzte mit wunderbarer Intuition sind nicht überraschend, denn sie haben lange Zeit gehabt, um Erfahrung zu sammeln und zu Experten
zu werden. Mehrfach Erlebtes ist in «Gefühl» übergegangen.
Dazu kommt noch ein weiterer Umstand:
Interessant ist, dass Menschen oft Intuitionen haben, auf die sie sich genauso fest verlassen, obwohl sie objektiv falsch sind. Auch wenn wir glauben, souverän zu entscheiden, lassen wir uns von Faktoren beeinflussen, die wir nicht einmal bemerken. Und wir neigen dazu, bei Entscheiden die uns vertrautere Alternative zu wählen.
Doch nicht immer führt der Hang zum Vertrauten zu den besten Entscheidungen. Das kann man etwa am Aktienmarkt beobachten – oder noch besser im Casino, wenn wir uns fast gänzlich vom Gefühl leiten
lassen. Oder weshalb setzen wir auf eine völlig unangebrachte Werbeperson im falschen Medium? Weil wir Angst haben vor Neuem – und so viele Möglichkeiten verschenken.
Hinter diesem beschriebenen Phänomen steckt das Hormon Dopamin. Es verschafft uns ein Gefühl der Belohnung, wenn wir etwas wiedererkennen. Die vertrautere Alternative lockt uns, auch wenn rational nichts für sie spricht.
In den Gehirnen von Parkinson-Patienten sterben die Dopamin-ausschüttenden Nervenzellen. Also werden die Betroffenen wechselhafter in ihren Entscheidungen. Auch das Sexualhormon Testosteron pfuscht uns hinein. Studien zeigen etwa, dass es z.B. Investment-Banker höhere Risiken eingehen lässt.
Wer etwas entscheidet, muss akzeptieren, dass seine Hormone heimlich mitentscheiden – aber auch andere Faktoren, die mit der Sache wenig zu tun haben. Sogar die Tageszeit kann eine Rolle spielen. Israelische Forscher haben die Urteile eines Bewährungsausschusses in einem Gefängnis über den Tageslauf verfolgt und festgestellt, dass diese mit der Zeit immer härter wurden. Offenbar litten die Richter nachmittags an Entscheidungs-übermüdung.
Gute Zeiten für wichtige Meetings sind morgens oder nach dem (nicht schwer aufliegenden) Mittagessen, dann sind wir erholt und können gut entscheiden.
Wenn Gefühl und Verstand einander widersprechen, kommt es zur Kraftprobe. Ein bemerkenswertes Experiment dazu haben Ökonomen Ende der neunziger Jahre an der Stanford University durchgeführt. Die Forscher erklärten ihren Probanden, dass sie ihr Gedächtnis testen wollten. Mal mussten sich die Probanden zwei Ziffern merken, mal sieben. Dann schleusten die Forscher sie beiläufig an einem Buffet vorbei, an dem es
Obstsalat und Schokoladentorte gab. In Wirklichkeit waren die Forscher gar nicht am Gedächtnis der Probanden interessiert, sondern an deren Wahl am Buffet.
Und sie fanden einen erstaunlichen Zusammenhang: Je mehr Ziffern die Probanden gerade im Gedächtnis zu behalten versuchten, desto eher entschieden sie sich für die Torte. Wenn der Verstand abgelenkt ist, hat das Gefühl also freies Spiel.
Mit dem Verstand stellt man sich Situationen vor, zu denen die Optionen führen könnten, und wägt ab, wie man sich in diesen Situationen fühlen würde. Eine beachtliche mentale Leistung, zu der nur Menschen fähig sind.
Wer Gefühl oder Verstand verliert, verirrt sich im Dickicht der Möglichkeiten. So wie Elliot.
Wenn bei David Schurter der Notruf eingeht, dann ist etwas Schlimmes passiert. Schurter ist Notarzt und Verantwortlich für die Ausbildung der Notärzte bei Schutz & Rettung Zürich. Als Leitender Notarzt wird er zu Grossereignissen aufgeboten: Bus-Unglück, Zug-Entgleisung oder ein in Flammen stehendes Krankenhaus.
Sein Job ist es, Grosseinsätze mit vielen Verletzten zu koordinieren. Er muss die Notärzte und Sanitäter vor Ort anleiten und festlegen, welche Patienten wie schnell in welches Krankenhaus kommen. Seine Anweisungen können über Leben und Tod entscheiden. Und er muss angehende Notärzte
auf diese Szenarien vorbereiten.
«In so einer Situation prasseln viele Eindrücke auf mich ein», sagt Schurter. «Die muss ich dann schnell sortieren.» Genau das fällt den Menschen jedoch normalerweise schwer, denn Stress ist eine denkbar schlechte Voraussetzung, um gute Entscheidungen zu treffen. Stress blockiert das Denken.
In bedrohlichen Situationen schüttet das Gehirn Noradrenalin aus. Der Botenstoff lässt uns blitzschnell reagieren, schaltet aber weite Teile der Grosshirnrinde ab. «Rationale Entscheidungen sind dann praktisch nicht mehr möglich», sagt Schurter. Wir rennen weg oder erstarren, und wer etwas tut, macht oft genau das Falsche.
David Schurter kennt das Problem: «Ein sehr guter Klinikarzt kann draussen komplett versagen.» Etwa, wenn er sich auf den erstbesten Verletzten stürzt, obwohl ein anderer viel dringender Hilfe braucht. Damit so etwas nicht passiert, gibt es Leitende Notärzte wie Schurter, die den Überblick
behalten.
Zudem bereiten Übungen mit nachgestellten Hausbränden oder Verkehrs-unfällen und gespielten Opfern Einsatzkräfte auf den Ernstfall vor. «Diese Szenarien müssen sitzen», sagt Schurter. Vorbereitung sei der Schlüssel. So lässt sich Stress vermeiden, weil wir uns in bekannten Mustern bewegen.
Ähnlich wie bei den Ärzten tönt es auch bei den Piloten. «Jeder Mensch reagiert unter Stress anders», sagt etwa Jarno Benz, Fluglehrer beim Berufsfliegerkorps der Schweizer Luftwaffe. «Wir Piloten werden deshalb von Anfang an darauf trainiert und ausgebildet, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Je nach Situation wird reflexartig reagiert, erfahrungsbezogen mit Checklisten gehandelt oder bei unbekannten, komplexen Situationen
gar mit Prozessen eine Lösung erarbeitet.
Das Training zur Standardisierung der drei verschiedenen Abläufe ist eben deshalb so wichtig, damit nicht jeder unter Stress entsprechend seinem Naturell handelt, sondern im Team in kürzester Zeit standardisiert
Problemsituationen bis hin zu Notfällen bewältigt werden können. Diesen zwingenden Standard erreichen die Piloten nur durch Training, Training und nochmals Training.
«Wenn das Bewusstsein um die verschiedenen Charaktere vorhanden ist und die ausgebildeten Abläufe sitzen, so stimmt meist auch das Ergebnis», so Benz. In der Fliegerei kann man inzwischen auf ein über 100-jähriges Wissen zurückgreifen. Unfälle werden aber erst seit den Achtzigerjahren immer akribischer untersucht und die Ergebnisse konsequent in die laufenden Prozesse eingebunden. «Unfälle können wir damit im Vergleich zu früher enorm reduzieren, ausschliessen aber leider nicht.»
Oder anders gesagt: Durch bekannte Prozesse wird das unter Stress natürliche, unterschiedliche Handeln des Einzelnen vermieden, welches zu spontanen unvorhersehbaren (und mitunter gefährlichen) Reaktionen führen kann.
«Künstler ticken anders!» sagt Felix Zollinger, Inhaber von artcollage.ch. «Für uns Künstler gibt es keine Grenzen». Wenn er sich bei der Erstellung von Bildern an sture Prozesse halten würde, käme jedes Bild genau gleich heraus. «So gibt es keine Entwicklung! Nur wer ausserhalb der Box denkt, kommt weiter.»
Künstler machen Fehler, Künstler hinterfragen, Künstler sind mysteriös und paradox, Künstler beobachten gerne und stellen Fragen, Künstler folgen Ihrer Leidenschaft und gehen über bekannte Denkmuster hinaus und Künstler lassen Dinge hinter sich.
Wahrlich nicht die gängigsten Attribute von Führungspersönlichkeiten. Aber wie war das nochmal mit der Ratio und dem Gefühl?
Richtig: Es braucht beides! Künstler und Kampfpiloten! Beide sollten voneinander profitieren!
Der Verstand ist ohne das Gefühl machtlos. Es gilt jedoch, für beide optimale
Voraussetzungen zu schaffen. Lassen Sie sich auf Unbekanntes ein, probieren Sie neue Dinge aus und seien Sie kreativ! Haben Sie jedoch etwas gefunden, das zu Ihnen und Ihrem Unternehmen passt, institutionalisieren Sie es. Stellen Sie Prozesse auf und schulen Sie Ihre Mitarbeiter gezielt! Hinterfragen Sie diese Prozesse ständig und passen Sie sie gegebenenfalls an!